Henrik (Tetraplegiker) sagt heute: Das Leben ist schön

Wenn Du in einem Jahr noch sterben willst, dann finde ich einen Weg. Aber ein Jahr lang werden wir ausprobieren, ob es nicht doch noch ein lebenswertes Leben für uns gibt.“

Das hat meine damalige Lebensgefährtin und heutige Frau einige Wochen nach meinem Unfall zu mir gesagt. Damals wollte ich sterben. Jetzt nicht mehr.

Wie die Meisten leben: Mal glücklich, mal weniger glücklich.

Henrik schreibt über sich (von 2005)

Ich habe mir am 29.4.2001 bei einem Fahrradunfall mit einem Auto meinen Hals gebrochen. Seitdem bin ich Tetraplegiker und kann weder meine Beine noch meine Arme bewegen. Von den Brustwarzen abwärts spüre ich auch nichts mehr. Aber ich kann selbstständig atmen und nach Jahren permanenter Krankengymnastik lässt sich mein linker Arm mittlerweile ein bisschen bewegen.

In meinem Leben vorher war ich bei einer großen Versicherung der Allianz in der EDV als DV-Organisator und Projektleiter tätig. Meine Hobbys waren hauptsächlich klassische Musik und Rennrad fahren. Wir sind aber auch gern in Urlaub gefahren und dort viel gewandert. Ein paar Jahre vor dem Unfall haben meine Lebensgefährtin und ich uns ein älteres Reihenhaus (Split-Level – also ganz viele Treppen) gekauft und haben es selbst nach und nach immer weiter verschönert. Das war mein Leben vor dem Unfall. Es war ein mehr oder weniger durchschnittliches Leben und es war wie die meisten Leben mal glücklich, mal weniger glücklich.

Von einer Sekunde zur anderen …

Dann kam der Unfall. Mein Leben vorher existierte von einer Sekunde zur anderen nicht mehr. Aber ich hatte viel Glück direkt nach dem Unfall. Ein Rettungssanitärer war zufällig in einem der nachfolgenden Autos und konnte dafür sorgen, dass ich richtig lag. Der Rettungshubschrauber brachte mich gleich in die Unfallklinik Murnau, eine der bekanntesten Spezialkliniken im Bereich Querschnittverletzungen. Dort wurde ich gleich operiert. Man hat festgestellt, dass mein Rückenmark zwischen dem 3. und dem 5. Halswirbel zerfetzt. aber nicht vollständig durchtrennt wurde, mein Kopf aber nur oberflächliche Schnittverletzungen aufwies. Ich war also eindeutig ein Glückspilz!

10 Monate im Krankenhaus

Jeder, der Ähnliches mitgemacht hat, weiß, was danach auf einen zukommt Es erscheint einem als die Hölle. In den ersten Wochen habe ich das wortwörtlich durchlebt. Ich hatte durch das Trauma und durch die Medikamente große Schwierigkeiten die Wirklichkeit von meinen Albträumen zu unterscheiden. Hinzu kamen eine schwere Lungenentzündung und dadurch eine MRSA-Infektion. Mehrere Wochen wurde ich in ein künstliches Koma versetzt. Ich war etwa drei Monate auf der Intensivstation.

An dem Tag, als ich die Intensivstation verlassen konnte, war ich glücklich. Direkt vorher hatten auch die Ärzte die Erlaubnis erteilt, dass wir in der Klinik heiraten konnten. Beinahe hätte es also eine Hochzeit auf der Intensivstation gegeben. So ist der Standesbeamte „nur“ auf eine normale Station im Krankenhaus gekommen, um uns zu trauen.

Die folgenden 7 Monate Im Krankenhaus waren ein Achterbahnleben – immer auf und ab. Ich habe mir regelmäßig alle paar Wochen wieder einen MRSA in der Leiste „eingefangene“ und musste in Quarantäne. Wenn man eigentlich anfangen will, sein Leben wiederzufinden, ist das wie Gefängnis.

Seit dem Unfall habe ich viele neue Freunde gefunden

Aber ich habe zwischendurch auch tolle Sachen erlebt. Meine Frau hat mich seit dem Unfall fast täglich in der Klinik besucht. Sie hat dann über E-Mail wöchentlich allen unseren Freunden von mir berichtet. Als ich wieder in der Lage war, Besuch zu empfangen, haben wir organisiert, dass die Freunde nach und nach zu mir nach Murnau kamen. Es waren gute Gespräche, die ich da mit ihnen führen konnte. Seit dem Unfall habe ich nur wenige Freunde verloren, aber viele neue Freunde gefunden.

So hat mich ein ehemaliger Arbeitskollege über mehrere Monate jeden Donnerstag mehrere Stunden besucht, damit meine Frau jeden Donnerstag lange arbeiten und von daher nicht nach Murnau fahren konnte. Vorher waren wir ehemalige Arbeitskollegen, jetzt sind wir sehr gute Freunde. Es gibt noch mehr Beispiele von Menschen, die durch den Unfall und die nachfolgende Zeit zu guten Freunden geworden sind.

In der Klinik wurde ich aber nicht nur von Freunden besucht, auch mein Chef (Allianz) war zweimal da und hat mir Mut gemacht. Ich konnte ihm sogar vorführen, wie ich mit einer ganz besonderen Steuerung, der so genannten Wergen-Steuerung, mit dem Mund einen Computer bedienen kann. Dafür hatte ich wochenlang in der Ergotherapie geübt.

Den ganzen Tag warten und fernzusehen?

Die meisten Menschen haben mir gesagt, dass ich wohl Rentner werden müsste. Meine Frau war anderer Meinung.

Sie hat mich ganz brutal gefragt, ob es mir denn Spaß machen würde, den ganzen Tag in der Wohnung auf sie zu warten und fernzusehen. 

Das Fernsehen hat mich schon in der Klinik extrem angeödet.

Und wieder hatte ich Glück. Mein Chef hat angeboten, mir einen Heimarbeitsplatz für die Allianz einzurichten und mir Aufgaben im Controlling seiner Abteilung zu geben. Das wochenlange üben mit der Mundsteuerung hatte sich gelohnt. Ich hatte eine Perspektive nach der Klinik. Ich habe die Chance erhalten, wieder zu arbeiten.

Trotzdem hatte ich am Ende meines Klinikaufenthaltes fürchterliche Angst vor meinem neuen Leben.

Das neue Leben beginnt

Unsere neue Wohnung war erst zwei Wochen vor dem Ende meines Klinikaufenthaltes fertig geworden.Beim Wandern in den Bergen 01 Alle Freunde haben dann beim Umzug und beim Einräumen mitgeholfen. Das Auto, das meine Frau gekauft hat, ist so gebaut, dass ich über eine elektrische Hebebühne hineinkomme und bis zu dem Platz des Beifahrers vorfahren kann. Ich fahre also aktiv mit und muss meiner Frau sagen, wo es lang geht. Die erste Zeit daheim war schön, aber sehr schwer. Jeder, der Ähnliches erlebt hat, wird mir zustimmen, dass man mindestens ein Jahr benötigt, um mit dem neuen Leben klarzukommen. Man muss dafür kämpfen. Fast alle Hobbys. die ich früher gehabt habe, waren nicht mehr möglich. Wir mussten Alternativen finden. Rennradfahren geht nicht mehr. aber wir können mit dem Rollstuhl wandern. Auch hier müssen Wege ausprobiert werden und manchmal geht vieles schief. Es ist ein schlimmes Erlebnis, wenn sich am Sonntagnachmittag auf einem Parkplatz im Naturschutzgebiet plötzlich der Hinterreifen löst und der Rollstuhlnotdienst am Handy erklärt, dass er für den Rollstuhltyp nicht qualifiziert ist – Aber auch das haben wir bewältigt.

Die erste Zeit daheim war schön, aber sehr schwer

In dem ersten Jahr daheim habe ich lernen müssen. wie meine neue Arbeit funktioniert und wie ich meine Freizeit gestalten kann. Aber meine Frau und Ich mussten auch lernen, dass vieles mehr Zeit kostet, als vorher und dass manches nur schwer möglich ist. Wir hatten wieder mehr Glück als andere. Durch den Verkauf des Reihenhauses und den Kauf der Wohnung ist uns genug Geld übrig geblieben, sodass wir nicht nur das Auto kaufen konnten und damit einigermaßen mobil sind. Wir konnten auch die Wohnung so gestalten. dass ich darin gut gepflegt werden und gut leben kann.

Meine Arbeit daheim kann ich mithilfe von Arbeitsassistenten durchführen. Ich kann zwar eigenständig am Computer arbeiten, aber wenn die Maschine mal wieder spinnt (das tun Computer ja bekanntlich nie…) und zum Beispiel aus- und angeschaltet oder Papier aus dem Drucker genommen werden muss oder sonst etwas – dann muss jemand mir meine Hände ersetzen. Letztendlich kann ich nur so arbeiten, weil es das Integrationsamt gibt und dieses Amt einen Teil der Kosten für die Arbeitsassistenten übernimmt. Damit bin ich In der Lage, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und auch Steuern zu zahlen.

Probleme, die zu lösen sind

Es gibt auch Punkte in meinem neuen Leben, an die wir uns nur schwer gewöhnen konnten.

 Es sind permanent Leute bei uns in der Wohnung. Morgens und abends kommen Pflegekräfte und tagsüber sind Arbeitsassistenten da.

Die Arbeitsassistenten habe ich selbst ausgesucht. Bei den Pflegekräften das schon wesentlich schwieriger. Der erste Pflegedienst, der mich nach dem Krankenhausaufenthalt gepflegt hat, konnte nicht kathetern. Die Information, dass es dafür einen ärztlichen Notdienst gäbe, erwies sich als falsch. Der zweite Pflegedienst hat zugesagt, dass diese Fertigkeit kein Problem darstelle. Das hat sich aber leider nur zum Teil bewahrheitet. Meine Frau hat meist den Pflegekräften zeigen müssen. wie zu kathetern ist und wie ich gepflegt werden muss.

Die Pflegekräfte, die zu mir kamen. Wechselten öfter und waren teilweise sehr schlecht ausgebildet. Ich musste einen Kampf mit dem Pflegedienst ausfechten, damit die Leute auch pünktlich kamen. Einige Pflegekräfte haben wir abgelehnt, weil sie es auch nach mehrmaligem Versuch nicht geschafft haben, die Sterilität beim Kathetern einzuhalten. Dazu muss ich sagen, dass ich jetzt schon drei Jahre ohne Harnwegsinfekt lebe. Das habe ich nur dem kompromisslosen Bestehen auf steriles Arbeiten beim Kathetern zu verdanken.

Beruflicher Neustart: Henrik gründete einen eigenen Pflegedienst.

Ich habe mir einigen anderen Behinderten diese Probleme durchgesprochen und überlegt. Dann bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es doch möglich sein muss, selbst einen Pflegedienst zu eröffnen, der sich gerade dadurch aus zeichnet. dass er die Belange der Betroffenen kennt und berücksichtigen kann. Also habe ich mich intensiv über die Modalitäten erkundigt und auch mit diversen Fachleuten gesprochen. Manche waren skeptisch, andere begeistert. Der Pflegedienst wurde gegründet.

Das liest sich so leicht, war aber mit vielen Problemen behaftet. Es ging schon damit los, dass wir eine GmbH gründen wollten. Ich wollte Geschäftsführer dieser GmbH sein. Bei der Gründung muss der Geschäftsführer beim Notar eigenhändig unterschreiben! Nach längerem Hin und Her hat sich der Notar darauf eingelassen, dass ich per Mund unterschreiben kann. Als nächstes musste ein Geschäftskonto eröffnet werden. Notariell war bescheinigt worden dass meine Frau volle Unterschriftsberechtigung hat. Das hat der Postbank jedoch offenbar nicht ausgereicht. Ohne Begründung wurde uns von der Postbank ein Geschäftskonto verweigert. Unsere private Hausbank hat sich nach längerem Verhandeln (und wieder Unterschriften per Mund) zu einem Geschäftskonto bereit erklärt. Die vielen Anfangsschwierigkeiten mit der Krankenkasse in Kulmbach würden nur noch langweilen.

Wir haben es geschafft

Aber wir haben es geschafft. Seit Dezember 2004 gibt es den „Pflegedienst“. Ich bin Geschäftsführer und wir haben ein Team von qualifizierten Pflegekräften, die wissen, was sie tun. Sie lernen zusätzlich bei mir, wie sich Menschen fühlen, die behindert sind, die gepflegt werden müssen. Sie lernen zusätzlich bei meiner Frau, wie sich Angehörige fühlen und dass es manchmal sehr wichtig ist, auch auf deren Belange, als „Co-Behinderte“ einzugehen. Vor kurzem war der MDK zur Prüfung da und hat dem Pflegedienst ein gutes Zeugnis ausgestellt.Beim Einkaufen 01

Ich fühle mich in meinem Leben wohl. Ich habe sehr viel durch meine Arbeit bei der Allianz und beim Pflegedienst zu tun – meine Frau sagt immer, zu viel – aber ich will es so. Ich weiß, dass ich mit meiner Arbeit einen wichtigen Betrag dazu leiste, dass es Menschen mit Behinderung besser geht. Ich glaube. Dass ich auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, dass Behinderte auch von Nichtbehinderten anerkannt werden. Mich kennen in unserem Viertel nicht nur die Bewohner unserer Wohnanlage (immerhin bin ich da Beiratsvorsitzender), sondern auch viele andere Mitbürger. Ich fahre allein zum Einkaufen und wir gehen oft noch am späten Nachmittag spazieren oder kehren auch mal in den Restaurants des Viertels ein.

Manchmal denke ich, dass ich heute ein zufriedenerer, vielleicht sogar glücklicherer Mensch bin, als vor meinem Unfall.

Text und Bilder: Henrik (2005)

Henrik schreibt über sich (von 2015)

Wir sind jetzt im Jahr 2015.

Durch intensive Krankengymnastik kann ich an einigen Tagen den Rollstuhl sogar mit meiner linken Hand bedienen.

Meine Frau und ich genießen das Leben. Sie wünscht sich, dass ich nicht länger als bis 19 Uhr vor dem Computer sitze. Doch mir macht es Spaß, und es gibt mir viel im Leben.

Der Pflegedienst hat sich etabliert und wird von einem befreundeten Paar geleitet. Sich die Situation beim Kunden vor Ort vom Rollstuhl aus anzuschauen, ist umständlich, und deshalb bin ich aus dem Pflegedienst ausgestiegen. Die EDV für den Pflegedienst wird aber weiterhin von mir betreut, denn hier bin ich Spezialist.

Meine Arbeit für die Allianz erfüllt mich immer noch mit Freude und schenkt mir Befriedigung und Anerkennung.

Ich wünsche mir zusammen mit meiner Frau noch viele schöne Jahre zu verbringen.

Text und Bilder: Henrik (2015)

Noch Fragen? Unter  Tel. 0171 – 22 1 44 66 sind wir gerne für Sie da.

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